Der gestohlene Abend

Es war einer dieser Abende, an denen alles passte. Im Speicher Erfurt duftete es nach Rosmarin, Holz und Rotwein. Die Lichterketten über dem Innenhof flimmerten wie Glühwürmchen, und die Band auf der kleinen Bühne spielte „Fly Me to the Moon“ mit einer charmanten Portion Schieflage.

An einem der Tische saßen Mara und Leo, zwei Freunde, die sich seit Jahren nicht gesehen hatten. Zwischen ihnen stand eine Flasche Chianti Classico 2015 – kein gewöhnlicher Wein. Der Barkeeper hatte ihn mit fast ehrfürchtigem Nicken empfohlen. „Nur noch eine Flasche im Haus,“ hatte er gesagt, „wir bewahren sie unten im alten Weinkeller auf.“

Mara hob das Glas. „Auf den Speicher – und auf Abende, die nach mehr schmecken.“

„Und auf ehrliche Empfehlungen,“ sagte Leo, „selbst wenn sie 42 Euro kosten.“

Das erste Glas war perfekt. Voll, rund, ein Hauch von Kirsche und Holz.

Das zweite war fast leer, als plötzlich die Tür zum Keller aufsprang.

Ein dumpfer Knall, Schritte, ein leises Fluchen. Dann tauchte eine Gestalt auf – schwarz gekleidet, mit einer Sporttasche in der Hand. Ein paar Gäste sahen kurz auf, dachten an einen Musiker, dann fiel der Blick auf die Tasche: Eine Flasche rollte heraus, schimmerte im Kerzenlicht.

„Das ist meiner!“ rief der Barkeeper und sprang über den Tresen, so flink, dass die Gläser klirrten.

Ein Moment Stille. Dann brach Chaos aus.

Der Dieb – jung, nervös, mit einem Schal über dem Gesicht – stolperte rückwärts, prallte gegen einen Tisch und kippte einen halben Liter Bier auf einen überraschten Studenten.

„Ey, das war mein Weißbier!“

„Und das war mein Kellerwein!“ brüllte der Barkeeper.

Mara stand auf. „Leo, das ist doch jetzt nicht dein Ernst – du filmst das?“

„Natürlich! Das wird der virale Hit des Jahres: Weinraub im Speicher.“

Der Dieb versuchte, durch den Hinterausgang zu fliehen, doch der Gitarrist der Band blockierte mit seinem Instrument den Weg. Ein dumpfer Akkord hallte durch den Raum.

„Nicht über die Bühne!“ rief der Drummer.

„Zu spät,“ sagte Mara trocken. „Das ist jetzt Performancekunst.“

In diesem Moment platzte die Tasche des Diebs auf.

Dutzende Flaschen rollten über den Boden, als hätten sie beschlossen, selbst die Flucht zu ergreifen.

Rotwein, Weißwein, Sekt – der ganze Abend roch plötzlich wie eine feine Katastrophe.

Der Barkeeper packte den Dieb am Kragen. „Runter in den Keller mit dir!“

„Da wollte ich doch gerade hin!“ keuchte der.

Ein paar Minuten später war der Spuk vorbei. Der Dieb wurde von zwei zufällig anwesenden Polizisten abgeführt – einer hatte eigentlich nur Feierabendbier trinken wollen. Der Boden war klebrig, die Musik verstummt.

Mara sah Leo an. „Na toll. Das war’s wohl mit der Stimmung.“

Doch der Barkeeper kam zurück, tropfnass, aber grinsend.

In der Hand – eine neue Flasche.

„Die letzte aus der Reserve. Zur Entschädigung. Geht aufs Haus.“

Sie prosteten ihm zu.

„Der Wein des Abends?“ fragte Leo.

„Nein,“ sagte Mara, „der Abend des Weins.“

Und als die Band wieder anfing zu spielen, war alles wieder gut – fast so, als hätte der Raub nie stattgefunden. Nur der Boden klebte noch leicht nach Kirsche und Abenteuer.

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