Die Geisterbar

Es war kurz nach Mitternacht, als Jonas das letzte Glas spülte und die Tür zum Speicher Erfurt verriegelte. Der Regen prasselte gegen die alten Fensterscheiben, und das Summen der Lichterketten im Hinterhof war das einzige Geräusch, das blieb.

Er war allein – dachte er.

Der Speicher war alt. Über zweihundert Jahre, sagten manche. Früher Lagerhaus, dann Werkstatt, später Treffpunkt für Musiker, Träumer und Nachtschwärmer. Jonas kannte jedes knarrende Brett. Doch an diesem Abend war etwas anders.

Als er das Licht hinter der Bar löschte, hörte er ein leises Klingen. Kein Glas, kein Tropfen – eher wie ein feines „Komm doch rein.“

Er fröstelte.

Er folgte dem Geräusch bis zur kleinen Kellertreppe. Unten war der alte Lagerraum, in dem kaum jemand mehr etwas suchte.

Die Tür stand einen Spalt offen. Ein schwacher Lichtschein flackerte dahinter.

„Hallo?“ rief Jonas. Keine Antwort. Nur Musik – ein dumpfer Jazzrhythmus, wie aus einer anderen Zeit.

Er trat ein.

Der Raum war anders. Wo tagsüber alte Weinkisten und Staub standen, befand sich plötzlich eine kleine, elegant beleuchtete Bar.

Ein Tresen aus dunklem Holz, Glaslampen, ein Grammophon in der Ecke. Und Menschen – nein, Schatten, die lachten, tranken, tanzten.

Jonas blinzelte. Eine Frau in einem Kleid aus den 1920ern stand vor ihm. Ihre Augen leuchteten bernsteinfarben.

„Willkommen in der Bar Nocturna,“ sagte sie und schenkte ihm ein Glas ein, ohne zu fragen. Der Wein war tiefrot, fast schwarz.

„Ich … ich dachte, der Speicher schließt um eins,“ stammelte Jonas.

„Nur oben,“ lächelte sie. „Hier unten schließen wir nie.“

Er sah sich um. Die Gäste wirkten glücklich, doch leicht durchsichtig, wie Nebel im Kerzenlicht.

„Seid ihr …?“

„Vergangenheit,“ unterbrach sie sanft. „Erinnerungen, die zu gern gefeiert haben, um ganz zu verschwinden.“

Jonas nippte am Glas. Der Wein schmeckte nach Brombeeren und Zeit. Eine Wärme breitete sich in ihm aus, so vertraut, dass er fast vergaß zu fragen, warum er hier war.

„Man findet uns nur, wenn man glaubt, dass Musik nie endet,“ sagte sie. „Und wenn man bereit ist, mit uns anzustoßen.“

„Und wenn man das nicht ist?“

Sie lächelte. „Dann erinnert man sich morgen an nichts.“

Die Uhr schlug eins. Die Jazzmelodie wurde langsamer. Die Gäste begannen zu verblassen. Nur die Frau blieb.

„Komm morgen wieder,“ flüsterte sie. „Bring eine Flasche vom echten Wein mit. Vielleicht bleiben wir dann etwas länger.“

Er blinzelte – und stand plötzlich wieder im Keller, allein.

Das Licht war aus, der Tresen verschwunden, nur ein leerer Weinfleck auf dem Boden.

Am nächsten Abend erzählte Jonas seinem Chef von der Begegnung. Der lachte nur.

„Ach, du hast sie also auch getroffen. Die Geister vom Speicher trinken nur mit denen, die bleiben, bis der Regen aufhört.“

Jonas nickte langsam.

Und seitdem, wenn es regnet, bleibt er länger.

Manchmal hört er leises Klingen – und glaubt, eine Hand hebt ein Glas im Dunkeln.

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Der gestohlene Abend